Neuköllns letzter Krieger

„Bionazis!“, schrie er voller Verzweiflung. Ich fühlte, wie der Alkohol meine Nasenhöhle hochwanderte und sich mit den Worten Gekommen, um zu bleiben an den Außenwänden verewigte. „Alles Bionazis hier! Und weil die bereit sind mehr zu zahlen, müssen wir unsere Wohnungen räumen.“ Er hielt sich für das echte Neukölln. Das einzige authentische Neukölln. In Wirklichkeit aber, war er das Neukölln von gestern.

Einige Jahre war es jetzt her, dass der erste Bionazi sein Zelt aufgeschlagen hatte. Er war in leer stehende Ein-Zimmer-Wohnungen gezogen und hatte Kellerräume renoviert. Er lebte weitgehend im Untergrund und mischte sich nur selten unter die Einheimischen. Doch die Fahne lag bereit und wartete geduldig auf den Tag, an dem sie über der neuen Republik wachen würde.

Heute scheint es nur noch eine Frage der Zeit bis zur totalen Machtübernahme. Wer nicht untergehen möchte, tauscht Türkenladen gegen Späti und trägt Karohemd zu Oberlippenflaum. Er schwärmt für Vintage Mode und nimmt sein tägliches Bier am liebsten in der unmittelbaren Nähe öffentlicher Toiletten ein. Er breitet sich mit rasender Geschwindigkeit aus und vernichtet alles, was sich ihm in den Weg stellt. Selbst altehrwürdige Eckkneipen können von ihm keine Gnade erwarten. Mit stolz geschwelltem Brusthaar macht er sich an den mühevoll zusammengezimmerten Bierfasstischen breit und lässt seinen Blick zufrieden über die neuen Untertanen schweifen.

Nein, heute erinnert sich niemand mehr an den Respekt, den man dem Stadtteil mit der höchsten Arbeitslosigkeit einst zollte. Sogar das in jahrelanger Kleinstarbeit erzeugte Ansehen der Rütli Schule, ruft bei den meisten nur noch ein müdes Lächeln hervor. Die guten alten Zeiten, in denen man sich nach Sonnenuntergang besser nicht mehr vor die Tür traute, gehören längst der Vergangenheit an. Heute muss man sich nur noch vor einem fürchten. Der aber verlangt bedingungslose Anpassung.

Das wusste auch der wütende Mann am Wildenbruchplatz. Und doch hatte er sich aufgebäumt. Als einsamer Krieger, hatte er zum Gegenangriff ausgeholt. Man weiß nicht, ob er wirklich an die Revolution glaubte, oder ob es die zwei Promille waren, die aus ihm sprachen. Die Schlacht aber hatte er schon vor langer Zeit verloren.