Ode an den guten alten Selbstauslöser

Ach! Du – vielgeliebter Selbstauslöser – –
ich schreibe Dir, um Dir in diesen schweren Zeiten
Mut zu machen. In Zeiten, in denen ich meine Tränen kaum noch
unterdrücken kann, wenn ich daran denke, wie
Du Dich fühlen magst, während Du vergeblich
darauf wartest, nur noch einmal liebevoll gedrückt zu werden.
Vorbei ist sie, die goldene Ära,
als die Menschen beim Kauf ihres Fotoapparats noch voller Sorge fragten:
Aber hat er denn auch einen Selbstauslöser?

Kannst Du Dich überhaupt noch daran erinnern,
wie sie Dich verehrten und Dich an ihren intimsten Momenten
teilhaben ließen? Wie Du bei Holgers Heiratsantrag
und bei Opas 90tem im Mittelpunkt standest und alle Augen
sich gebannt auf dich richteten? Als gefeierter Held
gingst Du an jenen Abenden zu Bett und träumtest von den Tagen,
die da kommen würden. Weißt Du noch, wie Du Dich damals fühltest
oder vergammeln die verbleichten Erinnerungen
derweil auf den vergilbten Seiten ebenso farbloser Fotoalben?

Weißt Du noch damals,
als es noch als Kunst für sich galt, Dich richtig zu bedienen? Mit
vor Ehrfurcht trüben Augen, beobachtete das Volk dereinst, wie sich
die Wissenden mit Kennerblick auf die Suche machten und jäh
zum Stillstand kamen, um mit stolz geschwellter Brust,
den idealen Stellplatz anzuzeigen. Wie sie Tischdecken gerade rückten und
störende Steinchen von zu Podesten erkorenen Bänken entfernten.
Unwillkürlich sackten die Kinnladen zu Boden, wenn die Profis
Dir ganz vorsichtig – so als wollten sie Dir ja kein Haar krümmen –
die abgenutzte Stirn streichelten, bevor sie zur viel bejubelten Vorführung

ihrer berühmten Sprinteinlagen übergingen. Die Herzen der Kinder schlugen
höher, während diese darüber nachsannen, wie auch sie eines Tages zu
Selbstauslöserprofis aufsteigen würden. Und dann kam Dein Einsatz! –
Wie oft musstest Du Dir danach enttäuschte Gesichter ansehen und
die heftigsten Streitereien mit anhören, wenn das Foto mal wieder zu dunkel geworden oder
Klein-Leni unten in den rechten Ecke nur halb im Bild war? Wie oft
schütteltest Du innerlich den Kopf und rolltest mit den Augen, wenn sie die
Schuld wieder auf Dich zu schieben versuchten? Und wie oft klopftest
Du Dir selbst anerkennend auf die Schulter, wenn alles geklappt hatte und
das Ergebnis später eingerahmt im Wohnzimmer zu bestaunen war?

Ja – es waren goldene Zeiten und niemand hätte auch nur
im Traum daran geglaubt, dass diese von einem Tag auf den anderen
der Vergangenheit angehören würden. Doch dann kam es, das angeblich
ach so ruhmreiche digitale Zeitalter mit seinen Smartphones, Selfies und anderen Störenfrieden.
Seither genügt ein ausgestreckter Arm. Und das Bild ist im Kasten. – Einfach so!
Wo sind sie hin, die gefährlichen Stunts? Wo bleibt die stets so belebende
Schnappatmung? Wo die Angst, die Kamera könne jeden Moment
hunterte Meter in die Tiefe stürzen? Ja – die Sorgen von früher gehören längst
der Vergangenheit an. Und niemand versucht, dies zu vertuschen.

Man sieht es in den unbekümmerten Gesichtern. Und in den
strahlenden Augen, welche weder Bange noch Bürde je gekannt zu haben scheinen.
Man sieht es und ist gelangweilt –
von der stets gleichbleibenden Fröhlichkeit. Und von der
Perfektion moderner Selbstportraits.

Aber auch im Zeitalter des Teleskopstabs, gibt es sie noch – die, die das
träge Armausstrecken einfach nicht befriedigt. Die, die Herausforderungen lieben und
Erfolgserlebnisse feiern. Die, die man Neandertaler schimpft
und über deren Hang zum Nostalgischen man nur müde lächelt. Eben die, die sich davon
nicht unterkriegen lassen, und Dich auch im 22. Jahrhundert
weiter auf Händen tragen werden.

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