Tintern Abbey – Erinnerungen an einen nebligen Morgen

 Five years have past; five summers, with the length
Of five long winters! and again I hear
These waters, rolling from their mountain-springs
With a sweet inland murmur. – Once again
Do I behold these steep and lofty cliffs,
Which on a wild secluded scene impress
Thoughts of more deep seclusion; and connect
The landscape with the quiet of the sky…

 

– William Wordsworth: Lines Composed a few miles above Tintern Abbey

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Um Punkt 11 Uhr stehen wir vor den Türen von Tintern Abbey. Wir sind die ersten, die die wohl berühmtesten Klosterruinen Großbritanniens an diesem Sonntag besuchen. Als wir durch die Tür des Giftshops treten, begrüßt uns die Stille. Nur ein paar Tauben sind schon wach und lassen uns an ihrem morgendlichen Gurrkonzert teilhaben. Die restlichen Anwohner scheinen noch friedlich vor sich hinzuschlummern und lassen sich nicht stören von den zwei Schuhpaaren, die langsam durch das aufgeweichte Gras stapfen. Auch die fast 1000 Jahre alten Steinmauern reiben sich die Schlafkörnchen nur ungern aus den Augen und schieben die Nebeldecke widerwillig beiseite. Und plötzlich steht sie vor uns, die leere Hülle des Gotteshauses, welche Dichter und Maler seit über 200 Jahren zu Ausrufen der Entzückung verleitet.

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Zwar hat die 1901 zum Baudenkmal erklärte Klosterruine mittlerweile einiges von ihrem ehemaligen Charme einbüßen müssen, doch dieser bleierne Morgen lässt auch unsere Herzen höher schlagen. Die Straße, die heute direkt an den Überbleibseln der Zisterzienserabtei vorbeiführt, verschwindet in dicken Nebelschwaden. Und auch das Gedröhn der auf der falschen Straßenseite vorbeihuschenden Autos dringt nur leise an unser Ohr und vermischt sich mit dem Rauschen des immer noch wilden Flusses. Als ich durch die Kameralinse blicke, verabschieden sich auch die letzten Bruchstücke meiner Umwelt und ich fühle, was William Wordsworth gefühlt haben muss, als er 1798 nur wenige Meilen über Tintern Abbey die wohl berühmtesten Zeilen der englischen Romantik verfasste.

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Damals noch wild und ungezähmt, gehörten die efeubewachsenen Ruinen zu den beliebtesten Ausflugszielen seiner Zeit. Wer als romantisch gelten wollte, musste mindestens einmal in den Wäldern rund um Tintern Abbey gesessen und auf die Ruinen hinuntergeblickt haben. Er musste durch das Schiff der Klosterkirche gewandert sein und seine Seele an der Schönheit des Zerfalls geweidet haben. Steht man an diesem walisischen Morgen am Ufer des River Wye und lässt den verträumten Blick über das Wasser gleiten, könnte man gar meinen, die Touristenbötchen, die im 18. Jahrhundert in Scharen vor Tintern Abbey anlegten,  in der Ferne zu erahnen.

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Doch auch der dichteste Nebel lichtet sich früher oder später und gibt die Sicht frei auf eine magielose Museumslandschaft aus grauer Geschichte und fantasielosen Erläuterungstäfelchen. Ich aber habe sie gesehen, die von Efeu bewachsenen Steinbögen der geheimnisvollen Tintern Abbey. Ich habe gehört, wie sie im morgendlichen Dämmerlicht den Herren Wordsworth und Turner ihre Geheimnisse anvertrauten. Ich habe mich nicht davor gescheut, den Saum meines rüschenbesetzten Kleides zu beschmutzen, als ich durch das kniehohe Gras watete, um die Geister zu spüren, die noch immer im Innern der Ruine herumstreunen sollen. Und ich werde allen davon erzählen, wenn ich zurück bin, in Mansfield Park.

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